niedziela, 30 listopada 2014

SPIEGEL-Brief

Sehr geehrter Herr Pascal Alter !

Der Blick der Öffentlichkeit ist ein flüchtiges Gut. Nach wenigen Wochen erscheint selbst das schrecklichste Unglück oder die brisanteste Enthüllung nicht mehr besonders interessant - oder wann haben Sie das letzte Mal von der umkämpften syrischen Stadt Kobane gehört? Das ist der Mechanismus der Aufmerksamkeitsökonomie.

Als im Dezember 1984 über der indischen Stadt Bhopal eine riesige Wolke Giftgas in den Himmel stieg, die bis heute bis zu 30 000 Menschen tötete, war die Welt entsetzt. Doch schon bald las man kaum noch über die Folgen der größten Chemiekatastrophe der Geschichte. 30 Jahre nach dem Unglück sind meine Kolleginnen Anne Backhaus und Simone Salden nach Bhopal gereist. Sie haben Opfer und Aktivisten getroffen und beschreiben, wie die Menschen dort noch immer giftiges Wasser trinken, weil das verseuchte Fabrikgelände nie professionell gereinigt worden ist. Es ist empörend zu lesen, wie das Chemieunternehmen Union Carbide ebenso wie die Politik bis heute ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.

Geschichten aus der Welt der Wirtschaft lese ich am liebsten, wenn sie anschaulich und nah am wirklichen Leben erzählt sind. Der Reportage von Barbara Supp über die Nöte deutscher Milchbauern gelingt das. Mit präzisem Blick beobachtet Supp, wie eine süddeutsche Bauernfamilie ihre Kühe verkaufen muss, weil sie mit Großbetrieben nicht länger mithalten kann. Jeden Tag geben in Deutschland 15 Milchbauern auf, schreibt Supp, weil sich das Geschäft für sie nicht mehr lohnt. Durch die Reportage habe ich verstanden, was sich hinter abstrakten Begriffen wie Milchquote und Agrarsubventionen verbirgt.

Wenn ältere Kollegen erzählen, dass es im früheren SPIEGEL-Haus ein Schwimmbad gab oder die Redakteure ganz selbstverständlich erster Klasse flogen, habe ich das Gefühl, zu spät geboren zu sein. Natürlich ist das Verklärung, aber Geschichten über die Sechziger- und Siebzigerjahre der alten Bundesrepublik lese ich einfach gern. Jan Fleischhauer und Martin Doerry haben den Journalisten und Politikberater Klaus Harpprecht zum Interview getroffen, einen langjährigen Vertrauten Willy Brandts. Harpprecht erzählt, wie sie früher beim ZDF schon morgens Cognac in den Kaffee mischten und dass Helmut Schmidt jahrelang eine Geliebte hatte, die er erst ablegte, als er Kanzler wurde. Herrlich unkorrekt - und ein großes Lesevergnügen.

Viel Freude bei der Lektüre wünscht Ihnen

Ann-Kathrin Nezik
SPIEGEL-Redakteurin

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