sobota, 11 czerwca 2016

SPIEGEL-Brief

Liebe Leserin, lieber Leser!
Vor zwölf Monaten noch hielt ich einen Austritt Großbritanniens aus der EU für so wahrscheinlich wie eine Hammerhai-Sichtung vor Husum. Ich hatte gerade ein knappes Jahr in London verbracht und war zwar vielen Briten begegnet, die auf Europa schimpften, aber fast niemandem, der sich ganz davon verabschieden wollte. Heute, kurz vor der Abstimmung am 23. Juni, liegen Brexit-Gegner und Befürworter in Umfragen gleichauf, Londoner Bekannte berichten ausnahmslos von einer zunehmend europafeindlichen Stimmung. Der Brexit ist plötzlich denkbar - aber was bedeutet das für Großbritannien, für Europa, für Deutschland?
Der SPIEGEL widmet dem Thema in seiner neuen Ausgabe einen ressortübergreifenden Titelkomplex, der den Ursachen und den möglichen Folgen der britischen EU-Müdigkeit aus vielen verschiedenen Perspektiven auf den Grund geht. Besonders ans Herz legen möchte ich Ihnen davon ein Interview mit dem deutschen Fotografen Wolfgang Tillmans, das Thomas Hüetlin und Peter Müller geführt haben. Tillmans, der größtenteils in London lebt und eine viel beachtete Pro-EU-Plakatkampagne entworfen hat, appelliert in dem Gespräch mit so viel Leidenschaft für einen Verbleib, dass er vielleicht auch Skeptiker überzeugen kann. An der Sprachbarriere soll's nicht liegen - das Interview ist wie alle Brexit-Geschichten in diesem Heft sowohl in Deutsch als auch in Englisch abgedruckt.
Nicht weniger spannend ist Laura Höflingers Text über die sogenannten Douglas-Babys: Im Jahr 1946 begannen Forscher, das Leben von über 5000 britischen Kindern in einer gigantischen Langzeitstudie zu vermessen, und sie haben immer noch nicht damit aufgehört. Seit 70 Jahren fragen sie in regelmäßigen Abständen nun Gesundheitszustand, wirtschaftliche Lage und emotionale Verfassung der Probanden ab, sodass sich ein unglaublicher Schatz an Wissen angesammelt hat. Zum Teil mit schmerzhaften Erkenntnissen: Ein Vergleich von Studenten mit ähnlicher Intelligenz und unterschiedlichem ökonomischen Status ergab, dass es nur wenige der ärmeren zu dem Wohlstand gebracht haben, der ihren bessergestellten Studiengenossen in die Wiege gelegt war.
Ich wohne in Berlin, und da läuft man an gefühlt jeder Ecke jemandem über den Weg, der um Geld bittet: Dazu gehören Obdachlose, Junkies, Straßenmusikanten, Aktivisten, Jongleure, mal mit, mal ohne Hund. Jedes Mal frage ich mich: geben oder nicht? Wenn ja, wem? Oder lieber von zu Hause aus spenden? Dialika Neufeld hat vier Experten um Rat gebeten: den Leiter einer Bahnhofsmission, einen Erzbischof, den Geschäftsführer des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen und einen Philosophieprofessor. Sie alle präsentieren unterschiedliche Antworten zu diesem ethischen Dilemma. Ein Text, nach dem man sich schlauer fühlt als vorher.
Mein unangefochtener Lieblingsartikel in dieser Ausgabe: die Geschichte meiner Kollegin Michaela Schießl über einen Tierarztbesuch mit ihrem Huhn Gollum. Sehr witzig und dabei seltsam rührend. Mehr verrate ich dazu nicht, das verdirbt nur den Spaß. Vertrauen Sie mir einfach.
Eine interessante SPIEGEL-Lektüre wünscht Ihnen
Ihr Daniel Sander
SPIEGEL-Redakteur

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